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Dr. Hans Aumüller

Studiendirektor a. D.

8 München 90

Über der Klause 4/B

 

Mein Lebenslauf

(von meiner Tochter Luise nach Dikat aufgenommen im August 1969)

 

Ich wurde am 14.November 1869 in der Oberpfalz geboren als das 11. unter 14 Kindern.  Meine Wiege stand in dem 1803 aufgehobenen, etwa 30 km nordöstlich von Regensburg auf einem Hügel gelegenen und weithin sichtbaren Benediktinerkloster Reichenbach am Regen, von dem mein Großvater einen Teil erworben hatte.  Mein Vater gründete später außerhalb des Klostergebäudes eine Steingutfabrik.

Kindheit: An meine ersten Jugendjahre kann ich mich nicht erinnern, außer daß, als ich etwa 4 Jahre alt war, aus München ein Telegramm kam, das den Tod meines 16 Jahre alten Bruders Sigmund anzeigte: er ist vermutlich an Cholera verstorben.

Mit 6 Jahren kam ich in die Volksschule.  Der Unterricht fand in den Wintermonaten (ab Okt.) von 8-11 Uhr und von 12-14 Uhr statt, im Sommer nur von 7-10 Uhr; der Donnerstag war schulfrei.

Ich wurde in der vielen Freizeit im Sommer auf mannigfache Weise beschäftigt.  Der Hauptlehrer schickte mich oft nach Schulschluß als Bote an die Bürgermeister der umliegenden Gemeinden, deren Gemeindeschreiber er war, um ihnen Dokumente zu überbringen.  Frühzeitig wurde ich auch Ministrant.  Meine Mutter beschäftigte mich häufig mit Besorgungen für die Küche.

In den Herbstferien mußte ich öfters unsere Kühe hüten.  Im Sommer badeten wir Kinder fleißig im angenehmen Wasser des Regenflusses oder ich vergnügte mich durch Fischen in unserem Weiher oder im Fluß.

Die Kleidung war damals gleich im Sommer und im Winter.  Es gab im Winter keine Unterhosen und keinen Mantel, nur Strümpfe und Holzschuhe.  Der einfachen Kleidung entsprach die Ernährung.  Bei der großen Familie einerseits und dem geringen Ertrag des Fabrikbetriebes anderseits galt es zu sparen.  Als Frühstück und als Abendessen gab es lediglich – und zwar auch in den wohlhabenden Familien – eine Suppe (Kartoffelsuppe oder „Weiße Suppe“ aus Sauermilch und Mehl).  Das Mittagessen bestand für alt und jung aus einem einfachen Gericht, meist aus Kartoffeln oder Mehl bereitet: Reiberdatschi, Kartoffelstrudel usw. (ohne Fleisch!).  Nur an Sonn – und Feiertagen gab es für jeden ein Stückchen Schweinsbraten mit Kartoffelknödeln.

Mit 11 Jahren kam ich an das „Alte Gymnasium“ in Regensburg als „Stadtschüler“; d.h. ich wohnte nicht in einem Seminar, sondern privat bei einem einfachen Schneider.  Das Gymnasium durchlief ich in allen Klassen mit Auszeichnung, obgleich ich mir schon mit 13 Jahren meinen Lebensunterhalt durch Nachhilfestunden bei Mitschülern und jüngeren Schülern selbst verdiente; denn meine Eltern konnten mir bei der großen Kinderzahl wenig Unterstützung gewähren.

Das damalige Gymnasium war im Gegensatz zum heutigen ein ausgeprägt humanistisches; die Hauptfächer waren Latein und Griechisch.  Es wurde keine Naturkunde gelehrt, keine Physik, außer Statik und Mechanik, was ich später als großen Mangel empfand.  Im Geschichtsunterricht wurde die Auswertung der vielen Kunstdenkmäler der Stadt Regensburg aus allen Kunstperioden versäumt, auch Unterrichtsgänge unterblieben.  Selbst Besichtigungen der nahen Walhalla und Befreiungshalle bei Kelheim fanden nicht statt.

Die Lehrkräfte hatten damals keinerlei pädagogische Vorbildung; trotzdem gaben die meisten einen sehr guten Unterricht.

Universitätsjahre: Im Oktober 1890 bezog ich die Universität München, um Altphilologie zu studieren.  Ich hatte das Glück, bei dem Hotelbesitzer Schottenhamel – einem Landsmann – als Instruktor seiner Söhne aufgenommen zu werden mit Wohnung und voller Verpflegung.  Nun war ich wirtschaftlich gesichert.  An der Universität hörte ich zunächst allgemeinbildende Fächer, keine philologischen, und zwar Geschichte der Philosophie bei Baron Hertling, dem späteren Reichskanzler, einem sehr gewandten, aber persönlich zurückhaltenden Redner und gründlichen Sachkenner; ferner Kulturgeschichte des Mittelalters bei dem berühmten Kulturhistoriker Wilh. Heinr. V. Riehl, einer ebenso redegewandten wie liebenswürdigen und humorvollen Persönlichkeit, der zuzuhören ein Vergnügen war.

Gegen Ende des 2. Semesters nahm ich die Hauslehrerstelle in einer gräfl. Familie (Arco-Zinneberg) an. Diese wirtschaftlich wohlgesicherte Tätigkeit hatte eine Kehrseite: Weil die gräfl. Familie die gute Jahreszeit auf ihrem Schloß außerhalb Münchens verbrachte, konnte ich die Vorlesungen nur zum Teil hören; ich mußte sie durch das Studium einschlägiger Bücher ersetzen.

Während ich als Hauslehrer in einem fürstlichen Hause (Fürst Quadt-Wykrath-Isny) tätig war, legte ich schon 1893 mein Staatsexamen ab und besuchte anschließend das Pädagogische Seminar des Wilhelmsgymnasiums München.  Juli 1894, am Ende des Pädag. Seminars, trat ich in den Dienst  des Herzogs Karl Theodor des Hauptes der Wittelsbachischen Nebenlinie des königlichen Hauses, der sich als Augenarzt berühmt gemacht hatte.

Meine Hauptaufgabe im herzoglichen Haus war der Unterricht des älteren, 11-jährigen Sohnes Ludwig Wilhelm in allen wissenschaftlichen Fächern des humanistischen Gymnasiums von der 2. Klasse ab (jetzt: „6.Kl.“).  Nebenbei unterwies ich die 3 bereits erwachsenen Prinzessinnen in allgemeinbildenden Fächern.

Mein Zögling Ludwig Wilhelm macht mir keinerlei Schwierigkeiten; er war begabt, fleißig und bescheiden.  Die 3 Prinzessinnen waren: Die liebenswürdige, sehr lernbegierige, mir gegenüber sehr aufgeschlossene älteste Prinzessin Sophie, die spätere Gräfin Törring-Jettenbach, deren Eigenart ihrer Tante, der Kaiserin Elisabeth v. Österreich, glich; ferner die aufgeweckte, kluge Prinzessin Elisabeth, die spätere Königin von Belgien, und die jüngste, Prinzessin Marie Gabriele, die spätere Kronprinzessin Rupprecht von Bayern, die ihre Beliebtheit beim Volke ihrem lieblichen Äußeren verdankte.  Die Herzoginmutter (aus dem portugies. Hause Braganza) hatte viel Interesse an der Ausbildung ihrer Kinder.  Sie war eine sehr liebenswürdige, feine Dame, während der Herzog recht zurückhaltend blieb.  Meine 3-jährige Tätigkeit beim Herzog brachte mir für meine spätere Laufbahn im Staatsdienst keinen Vorteil, ich erstrebte auch nie einen solchen; aber sie bot mir Gelegenheit zur Erweiterung meines Gesichtskreises. Während eines dreimonatigen Frühjahrsaufenthaltes lernte ich die herrliche französische Riviera von Genua bis Nizza kennen.  Wir wohnten in einem Schlößchen in Mentone.  In dieser Zeit kam ich auch in Berührung mit höchsten Persönlichkeiten.  In Mentone war ich mit dem österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand, der zu Besuch beim Herzog weilte, zusammen in einer Schaubude der sog. „bateille de Fleurs“ (= Blumenschlacht).  (Bekanntlich fiel er später mit seiner Gemahlin in Serajewo (Bosnien) einem Attentat zum Opfer: Anlaß zum 1. Weltkrieg).  In Mentone hatte ich auch Gelegenheit, die Witwe des letzten französischen Kaisers Napoleon III zu sehen.  Bei meinen Spaziergängen konnte ich die Insel Korsika deutlich sehen.  Der Aufenthalt in Mentone ermöglichte mir auch einen 3-maligen Besuch des nahen Spielkasinos in Monte Carlo (ich trug im ganzen einen kleinen Gewinn davon).

In Tegernsee lernte ich infolge des Besuches der Kaiserin, Gemahlin Wilhelms II, ihre Kinder, vor allem auch den 16-jährigen deutschen Kronprinzen kennen, der mir bei einem Gastmahl, das der Herzog der kaiserl.  Familie gab, gegenübersaß und einen guten Eindruck machte.  So hatte meine Tätigkeit als Hauslehrer von der einfachen bürgerlichen Stufe alle Adelsstufen bis zum Königshaus durchlaufen.  Während meiner Tätigkeit beim Herzog promovierte ich 1895 auch zum Dr. phil.

Im Staatsdienst: Im September 1897 beendete ich meine Tätigkeit im herzoglichen Hause, um in den Staatsdienst zu treten.  Meist war ich an Gymnasien in München tätig, aber auch in Landshut, Ludwigshafen a. Rhein und Rosenheim.

In Landshut begann auch meine Vereinstätigkeit im Dienst der Gabelsbergerschen Stenographie.  Bald wurde mir die Leitung des „Landshuter Stenographenvereins“ übertragen, den ich zu hoher Blüte brachte.  Später wurde ich Vorsitzender des „Bayern Landesverbandes“, Mitglied der „staatl. Prüfungskommission für Stenographielehrer“, wurde Mitglied des „Systemausschusses des Deutschen Stenographenbundes“, als welches ich an dem Zustandekommen der „Deutschen Einheitskurzschrift“ (1925) Anteil hatte.  Diese meine Tätigkeit wurde von den dankbaren Stenographen durch verschiedene  Auszeichnungen belohnt; die höchste war die Ernennung zum „Ehrenmitglied des Deutschen Stenographenbundes“, dessen einziges Ehrenmitglied ich z. Zt. bin.

Außer für die Stenographie hatte ich schon frühzeitig Interesse für das öffentliche Leben.  Schon mit 14 Jahren habe ich mir eine Zeitung gehalten.  Einige Jahre vor dem 1. Weltkrieg gründete ich in München mit 4 anderen Herren den Münchener „Zentrumsverein“ - eine Vereinigung zur Belebung des politischen Lebens in der Landeshauptstadt.  Aus dieser Vereinigung erwuchsen namhafte Führer, so der Oberbürgermeister Karl Scharnagl.  Mir angebotene Mandate lehnte ich ab, weil ich meinen Beruf als Schulmann nicht aufgeben wollte.  Eine Reihe von Jahren war ich auch Vorsitzender des „Münchener Gymnasiallehrerverbandes“.

Am 1. Januar 1935 trat ich mit Erreichung des 65.  Lebensjahres als Oberstudienrat (Studiendirektor) in den Ruhestand.

Auf Grund einer Denunziation geriet ich während der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten in die Fänge der Gestapo (= Geheime Staatspolizei); aus ihnen befreite mich ein Verwandter, der ein Jugenfreund Himmlers war.

Im Ruhestand widmete ich mich täglich durchschnittlich 6 Std. einer wissenschaftlichen Beschäftigung die mit der Schule zusammenhing; denn ohne nutzbringende Tätigkeit konnte ich nicht sein.  Im Druck erschienen ist mein Buch „Deutscher Stil“, das beste Aufnahme bei der Fachkritik fand.  Meine übrigen Manuskripte – „Lateinische Stilistik“, die mich jahrzehnetelang beschäftigt hat und die ich auf eine völlig neue Grundlage stellte; „Lateinische Grammatik“ und andere – harren noch eines Verlegers.

Familie:  Ich hatte zwei treubesorgte Frauen; die erste wurde mir mit 43 Jahren entrissen, die zweite starb im 77. Lebensjahr, 1958.  Im ganzen hatte ich 3 Kinder, zwei Söhne und eine Tochter.  Mein Sohn aus 1. Ehe verstarb leider schon mit 51 Jahren.

Mancher wird fragen, warum ich so alt geworden bin:

In erster Linie mag die gesunde Erbmasse mitgewirkt haben; meine Eltern und einige Geschwister haben das 80. und 90. Lebensjahr überschritten.

Mehr noch mag meine Mäßigkeit im Essen und Trinken zur Erreichung meines hohen Alters beigetragen haben.  Das Rauchen von Zigarren hat mir nicht geschadet; der Zigaretten habe ich mich völlig enthalten.

Von früher Jugend an habe ich im Sommer fleißig gebadet. Als das Fahrrad aufkam, wurde ich sein begeisterter Freund und machte auch grosse Touren.  Noch in fortgeschrittenem Alter habe ich mit einem Freund Fußwanderungen im Gebirge, den Rucksack auf dem Rücken, unternommen.  Als die Lehre Sebastian Kneipps von der Heilkraft des Wassers sich verbreitete, habe ich sie nach Möglichkeit and mir verwirklicht.

Nicht wenig mag zur Bewahrung meiner Gesundheit auch der Unstand beigetragen haben, daß ich mir schon frühzeitig (1913) in der neuentstandenen Kolonie am Südrand von München, in Harlaching ein Eigenheim erbaute und die dortige gute Luft genießen konnte.  – Schliesslich mag auch die Tatsache mitgewirkt haben, daß ich stets inneren Frieden und Freundschaft mit meinen Nachbarn und anderen Mitmenschen und mit der Kirche suchte.

Am meisten mag auf mein Befinden im Ruhestand günstig eingewirkt haben meine schon erwähnte wissenschaftliche Beschäftigung, die mich sehr befriedigte (ihr machte ein Sturz im Wohnzimmer 1967 ein jähes Ende).  Ein Bruch meines linken Oberarms hatte einen Kreislaufzusammenbruch zur Folge.  Aufopfernder häuslicher Pflege verdanke ich meine Rettung.  Meine Augen wurden jedoch anschließend so geschwächt, daß ich nicht mehr lesen und schreiben kann; meine Tochter Luise liest mir vor, was ich wissen will, und schreibt, was ich schreiben will.-

Dem Herrn sage ich Dank für seine gütige Führung durch 100 Lebensjahre (1869 – 1969) !

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